Leser-Bericht: Eine denkwürdige Reise in das Herz des europäischen Krisenregimes
Meine Reise begann am Samstag, den 1. Juni 2013, um 6 Uhr am Leipziger Hauptbahnhof. An jenem Tag, für den das kapitalismuskritische Bündnis „Blockupy“ seine internationale Großdemonstration durch das Finanzzentrum Europas, das Bankenviertel Frankfurts, angekündigt hatte. Dem voraus gingen seit Donnerstag mehrere Protestaktionen des Bündnisses, wie die Belagerung der Europäischen Zentralbank und eine Demonstration am Frankfurter Flughafen gegen die deutsche Abschiebepolitik. In einem Bus mit verschiedenen linken Aktivist_innen begaben wir uns auf die rund fünfstündige Reise nach Frankfurt. Kurz vor 12 Uhr erreichten wir unser Ziel, gerade rechtzeitig, um uns der eben begonnen Demonstration anzuschließen.
von Exbir-Fan Xenia aus Leipzig
Als Mitglied von Die Linke.SDS an der Universität Leipzig begab ich mich zum Block der Partei „Die Linke“. Die Stimmung war gut und die Teilnehmer frohen Mutes, eine friedliche und bunte Demonstration gegen die von Deutschland angeführte Krisenpolitik, die Troika und die Übermacht der Banken zu demonstrieren. Sogar das Wetter spielte mit. Mit Musik, Tanz, Konfetti, Seifenblasen, Schildern, Transparenten, Kostümen und verschiedenen Parolen begaben wir uns auf unseren Weg durch Frankfurts Innenstadt.
Bereits nach wenigen Minuten und, wie ich jetzt weiß, nicht mal nach einem Kilometer der geplanten Route, erreichte uns die Nachricht von der Einkesselung des sich an der Spitze der Demonstration befindenden antikapitalistischen Blocks. Diese Neuigkeit rief unter den Demonstrierenden Empörung aus, aber sicherlich rechnete niemand damit, dass die Demo bereits zu diesem Zeitpunkt ihr jähes Ende gefunden haben sollte. Als sich der Demonstrationszug auch nach einer viertel Stunde nicht regte, entschied ich mich, mir das Geschehen aus nächster Nähe anzusehen und zog vorbei an den Blöcken aus attac, DKP, linksjugend.solid, Antifa und vielen anderen. Ich wollte wissen, was genau geschehen war, warum es geschehen war und welche Konsequenzen dies haben würde. Die Menschen drängten sich umso dichter, je näher ich mich dem von der Polizei eingekesselten Block näherte. Ein Durchkommen wurde immer schwieriger.
Irgendwann befand ich mich inmitten des Geschehens: Vor meinen Augen der antikapitalistische Block, gern auch „schwarzer Block“ genannt, umringt von Polizeihundertschaften, ausgestattet mit Regenschirmen, Transpis und Plakaten (die ihnen später als „indirekte Bewaffnung“ angekreidet wurden), aber von der Erscheinung alles andere als „schwarz“ oder vermummt. Den Block und den angrenzenden Demonstrationszug trennten zu diesem Zeitpunkt zwei Polizeireihen, doch seitlich von und hinter den Eingekesselten taten sich immer mehr Polizisten auf. Im Laufe des Nachmittags sollte sich die Anzahl der Polizeireihen zwischen dem abgetrennten Block und dem Rest der Demo auf zehn erhöhen – ohne ersichtlichen Grund. Natürlich von oben bis unten vermummt, keine Dienstnummer, namenlos. Warum der vorderste Teil der Demonstration von uns anderen abgetrennt worden war, erschien mir in diesem Moment nicht ersichtlich. Auch wenn ich nicht von Beginn der Einkesselung vor Ort gewesen war, fiel es mir schwer, einen wirklichen Grund für dieses Vorkommen ausfindig zu machen, da ich weder eine aggressive und gewaltbereite Stimmung unter den Demonstrierenden, noch allgemeine Vermummung feststellen konnte (wie ihnen später vorgeworfen wurde, um das rabiate Vorgehen der Polizei zu rechtfertigen). Im Gegenteil: Alle Teilnehmenden verhielten sich friedlich. Und Parolen wie „Hoch die internationale Solidarität“ und „A-Anti-Antikapitalista“ sowie musikalische Beiträge der Sambagruppen stellen nun wirklich keine Eskalationsrisiken dar. Trotzdem drängte uns die Polizei immer weiter zusammen, nahm uns unseren Platz zum Demonstrieren und übte durch ihr physisches Aufrücken mentalen Druck auf uns aus, provozierte uns. Mittlerweile kamen sie auch schon von den Seiten und filmten uns unablässig, die Kameras nebeneinander aufgereiht im Abstand von nur einem Meter, als wären wir Verbrecher. Das Ziel der Polizei war es, uns von der geplanten Demo-Route durch die Innenstadt abzubringen, und das ohne den antikapitalistischen Block. Die Forderungen seitens der Polizist_innen waren klar: Wir dürften die Demo nur ohne den abgetrennten Block und auch nicht entlang der geplanten Route fortführen. Doch das kam für uns nicht in Frage, war die Demonstration doch erst kurz davor durch rechtliche Instanzen genehmigt worden und hatten wir uns keiner Rechtsbrüche oder Verstoße schuldig gemacht, die eine Umleitung des Protests gerechtfertigt hätten. Wir würden uns nicht spalten lassen. Noch viel weniger würden wir uns unserer Freiheitsrechte berauben lassen, aber wir würden uns mit den Aktivist_innen in der „Sicherheitszone“ solidarisieren. Aus einem Bus im nicht eingekesselten vorderen Teil der Demo wurden wir über die Geschehnisse im abgetrennten Block auf dem Laufenden gehalten. Gemeinsam machten wir unserem Ärger über die polizeiliche Willkür mit Sprüchen wie „Haut ab“ und „Wir sind friedlich, was seid ihr“ Luft.
Plötzlich wurde das erste Mal in meinem Umfeld mit Pfefferspray hantiert, Menschen schrien und wichen zurück, waren wütend und empört. Knallhart und ohne mit der Wimper zu zucken mißhandelten Polizisten die Aktivist_innen in den vordersten Reihen des noch „legalen“ Demonstrationszuges mit Pfefferspray und Schlagstöcken – ganz ohne Grund. Die Polizisten wurden immer mehr, die Gefahr kam immer näher – auch ich bewegte mich wieder etwas weiter nach hinten. Die Stimmung kochte auf, in mir eine Mischung aus Angst, Aufregung und Wut. Ich hatte Glück und atmete nur ein wenig Pfefferspray ein, bekam Reizhusten und brennende Augen. Aber neben mir wurden ständig verletzte Menschen abtransportiert, entweder von der Polizei grundlos niedergeprügelt oder von Pfefferspray getroffen. Immer wieder der Ruf nach Sanitätern. Es herrschte Wassermangel, nicht nur bei den Eingekesselten, die mehrere Stunden ohne Versorgung auskommen mussten. Vor allem für die vom Pfefferspray Versehrten mussten schnell mit Wasser herangeschafft werden. Beschäftigte des Schauspielhauses, die sich in unmittelbarer Nähe zur Demo befanden und das Geschehen aus nächster Nähe aus ihren Fenstern beobachten konnten, solidarisierten sich mit uns und ließen in einem Eimer Wasser und Klopapier die Wand herunter zu den Eingekesselten. Ein, zwei Böller flogen. Im antikapitalistischen Block zündeten zwei, drei bengalische Feuer. Eine Antwort auf die Provokationen und gewalttätigen Ausschreitungen unsere „Freunde und Helfer“.
Auf die grundlose Einschränkung unserer demokratischen Rechte wie Demonstrieren, Bewegungsfreiheit und freie Meinungsäußerung. Und wieder ging es los mit den willkürlichen Knüppeln, wieder wurde massenhaft Demonstrierenden aus nächster Nähe mit pistolenartigen Geschossen Pfefferspray in die Augen gesprüht. Zurück kamen geworfen Flaschen und Farbbomben. Stunden vergingen. Mal war die Masse aufgebrachter, dann kehrte zeitweise wieder Ruhe ein. Doch mit der Einsicht in die Aussichtslosigkeit der Lage löste sich die Demonstration immer weiter auf, wurden wir immer weniger und hatten Mühe, die geschaffenen Luftlöcher zu stopfen, bevor die Polizei sie für sich in Besitz nehmen und uns immer weiter auf die Pelle rücken konnte. Auch ich musste mich gegen 17 Uhr von der Demonstration loslösen, um meinen Bus zurück nach Leipzig zu bekommen. Die Abführung der einzelnen Aktivist_innen im antikapitalistischen Block bekam ich also nicht mehr mit. Durch die in der Presse veröffentlichten Bilder und Berichte kann ich nur erahnen, wie brutal diese von statten gegangen sein muss und mit welcher Grausamkeit und ohne Rücksicht auf Verluste die Polizist_innen vorgingen.
Mittlerweile ist bekannt, dass die Einkesselung des antikapitalistischen Blocks von langer Hand geplant war. Dafür spricht nicht nur das hohe Polizeiaufgebot, sondern auch die strategisch „günstige“ Lage, fernab von Wohnhäusern und Innenstadt. Mehrere Augenzeugen haben bereits von persönlichen Begegnungen mit der Polizei vor der Einkesselung berichtet, in denen diese auf die anstehende Aktion hinwies. Zahlreiche Journalisten und Sanitäter beklagten bereits das unverhältnismäßige und grausame Vorgehen der Beamten gegen die Demonstrierenden. Wer sich im Zusammenhang mit der Eskalation auf der Blockupy-Demo auf eine „kleine, linksradikale“ Gruppe beruft, macht sich mehr als unglaubwürdig. Wer versucht, das brutale Vorgehen der Polizei durch „potentielle Gewaltbereitschaft“ und „Vermummung“ der Demonstrierenden zu rechtfertigen, kann kein Freund der Demokratie sein.
Am 1. Juni 2013 hat unser „demokratischer Rechtsstaat“ freiheitliche, demokratische Grundrechte mit Füßen getreten. Mit eigenen Augen konnte ich beobachten, was er von der Wahrnehmung und Ausübung demokratischer Rechte und Möglichkeiten hält: nämlich nichts. Die Berichte über die Gewalttätigkeit und Unmenschlichkeit der Beamten offenbaren einen einzigen Skandal. Wenn die deutsche Regierung auf die Brutalität gegen Demonstrierende in der Türkei schimpft, misst sie zweierlei Maß. Hier muss ein System, über das sich schon längst mehr als nur eine Minderheit erhebt, aufrecht erhalten werden, und zwar mit allen Mitteln. Darum werden wir im nächsten Jahr wieder kommen und wir werden stärker und zahlreicher sein als zuvor! (Voller Name der Redaktion bekannt)
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