Hansen und Paul Hoepner: Zwei nach Shanghai.
In 206 Tagen um die halbe Welt
Rezension von Jürgen Hermann
Die Zwillingsbrüder Hansen und Paul Hoepner entwarfen ein wagemutiges Reiseprojekt – und setzten es in die Tat um: In knapp sieben Monaten reisten sie mit dem Fahrrad von Berlin nach Shanghai.
Was wohl ihre Mutter gedacht haben mag, als die Söhne an ihrem dreißigsten Geburtstag aufbrachen, um mehr als dreizehntausend Kilometer hinter sich zu bringen? Als sie sich in die Sättel ihrer Fahrräder schwangen, um ein Vorhaben zu verwirklichen, das weit mehr war als eine sehr ambitionierte Radtour und wofür sie nur mitnahmen, was sie auf ihre Räder packen konnten?
Auch wenn man heute auf moderne Kommunikationstechnologie und GPS zurückgreifen kann: Es bedarf ohne Frage der Abenteuerlust sowie der körperlichen Fitness des jungen Menschen, um solch ein respektables Projekt anzupacken und erfolgreich zu realisieren.
Vor zwei Jahren machten sich die Brüder auf, nachdem sie mehrere große Radtouren durch Europa absolviert und, dem Zeittrend folgend per Crowdfunding, zur Deckung der Kosten eine ausreichende Zahl von Sponsoren gefunden hatten. Während der Tour entstand neben dem vorliegenden Buch eine dreiteilige Fernsehdokumentation, und per Blog hielten die beiden sowohl ihre Angehörigen und Freunde als auch die Förderer auf dem Laufenden.
Hansen und Paul Hoepner verweisen in ihrem Buch, in TV-Talkshows und bei Vorträgen auf die besondere innere Verbundenheit, die bei eineiigen Zwillingen vorhanden sei. So litten sie vor der Tour unter der räumlichen Entfernung, als beide in unterschiedlichen Städten studierten und sich nur noch selten sahen. Sie lebten sich auseinander und wollten sich, wie sie betonen, neu kennenlernen. Vor diesem Hintergrund entstand der Plan, nach Shanghai zu radeln, obwohl beide sich bei aller Brüderlichkeit regelmäßig und leidenschaftlich streiten und nach eigenen Angaben ganz verschiedene Charaktere haben.
Wie lautet doch das chinesische Sprichwort: „Die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt.“ Die jungen Männer starteten also in Berlin, sie begannen einen Lebensabschnitt voller Abenteuer und Unwägbarkeiten, angefüllt mit abstrusen und irrwitzigen Situationen, ohne weiches Bett und meist mit wildem Campieren. Bereits in Polen wären sie beinahe von einem Lkw von der Straße gefegt worden – ein Vorgeschmack auf bevorstehende Revierkämpfe im osteuropäischen und zentralasiatischen Überlandverkehr. Mit Glück klappte es im Baltikum mit dem Nachsenden ihrer Reisepässe mitsamt den eingetragenen Visa für Russland.
Die vielen Kilometer über Moskau in die russische Provinz prägten rücksichtslose Auto- und Lastwagenfahrer, schwierige Betonpisten und unbefestigte Straßen sowie aggressive Mücken in Kampfformation („Supermücken, Terrormücken, eine ganze Mückenarmee“). Entschädigung boten die vielen Begegnungen mit gastfreundlichen und hilfsbereiten Menschen, Einblicke in das Leben der Russen, die sich indes mehrmals zu Wodkagelagen entwickelten. Entsprechend mühsam waren tags darauf das Aufbrechen und das Weiterradeln mit müdem Körper.
Über Russland in die Steppen und Gebirge Zentralasiens
Hansen und Paul Hoepner wechseln sich bei der Erzählung ab. Packend und gut lesbar beschreiben sie die Etappen ihrer Tour. Im Schnitt legten sie pro Tag siebzig Kilometer zurück, und der Leser kann die physische Herausforderung gut nachvollziehen. Er schüttelt allenfalls hin und wieder den Kopf, wenn die Brüder in Bezug auf ihre persönliche Sicherheit sowie auf ihr Wohlergehen ein doch erstaunliches Maß an Sorglosigkeit an den Tag legen. Wer will schon monatelang in den Steppen Zentralasiens und Chinas wild campen, an teils idyllischen Stellen, aber fernab von Städten und Dörfern, mit schon mal einem Nachtmahl aus frittierten Heuschrecken und nur einem eiskalten Bach als Badezimmer?
So kam es in Kasachstan auch zur einzigen wirklich gefährlichen Situation, als Paul und Hansen von betrunkenen jungen Männern angehalten und attackiert wurden. Diese Situation hätte schlimm enden können. Zu Hilfe kam ihnen ein entschlossen auftretender und mit einer Metallstange drohender Lastwagenfahrer. Dennoch verbrachten die beiden, wie sie schreiben, die folgende Nacht in großer Angst davor, dass ihre Angreifer sie in ihrem Steppencamp doch noch aufspüren könnten.
Ansonsten werden sowohl Kasachstan als auch Kirgisistan als Länder voller landschaftlicher Schönheit und freundlicher Menschen beschrieben. Die Brüder lernten fremde Kulturen kennen, wenngleich zum richtigen Eintauchen in diese exotische Welt die Zeit fehlte. Wieder gab es zahlreiche Einladungen von gastfreundlichen und interessierten Einheimischen, Steppen und Gebirge wechselten sich ab, und gar nicht so selten trafen sie andere ausländische Globetrotter, die – oft mit dem Motorrad – in derselben Region unterwegs waren.
In Kirgisistan musste Paul Hoepner wegen einer Infektion ins Krankenhaus. So machten sie nicht nur Bekanntschaft mit den für westeuropäische Verhältnisse kaum vorstellbaren hygienischen Zuständen in einer dortigen Klinik, sie verloren auch wertvolle Reisetage und befürchteten bereits das Scheitern ihrer Tour. Denn sie hatten bis zu einem Stichtag in die Volksrepublik China einzureisen, andernfalls wäre ihr Visum ungültig geworden. Schließlich half nur, einen Teil der Strecke zu trampen und die Unterstützung kirgisischer Trucker anzunehmen, wenngleich deren Fahrstil den Hoepners erneut die Haare zu Berge stehen ließ.
Die Einreise nach China klappte praktisch in letzter Minute, und die zweite Hälfte der Tour lag vor ihnen. Im Reich der Mitte erschwerten Widrigkeiten wie Sandstürme und Felsstürze das Vorwärtskommen, und es mussten schon mal achtzig Kilometer zurückgefahren werden, weil die eingezeichnete Überlandstraße im Nichts endete. Technische Probleme mit den Rädern und der Ausrüstung traten ohnehin regelmäßig auf. Hansen verrenkte sich den Rücken, Paul verletzte sich bei einem Sturz schwer, beide hatten immer wieder üble Magenverstimmungen, doch die wirkliche Herausforderung lag noch vor den Brüdern.
China als mentale und physische Grenzerfahrung
Der Weg durch China (die Durchquerung Tibets war nicht möglich) bedeutete nämlich die Fahrt über ein mehr als fünftausend Meter hohes Gebirgsmassiv. Manchmal mussten die beiden im Schneetreiben ihre schwer bepackten Räder in dünner Luft auf steilen, unbefahrbaren Pisten schieben, was sie nun doch an die Grenze ihrer physischen Kraft brachte und auch eine starke psychische Belastung bedeutete. Würde man es bis Shanghai schaffen, war das Ziel diese Schinderei überhaupt wert? Tiefe mentale Täler in luftiger Höhe.
Alle Zweifel verflogen, als Paul und Hansen vom Gipfel auf eine grandiose und zutiefst beeindruckende Landschaft blickten. Es war, wie sie schreiben, das visuelle und positive emotionale Highlight des gesamten Projekts. Was zählte im Vergleich dazu, dass sie den Rückflug umbuchen mussten, da unerwartete Umwege zu bewältigen und die verlorenen Tage nicht aufzuholen waren.
Nach weiteren Tagen der Fahrt durch eher dicht besiedelte Teile Chinas und einem Zwangsaufenthalt auf einer lokalen Polizeistation erreichten die Brüder Shanghai. Alle Quälereien, das tagelange Fahren gegen den Wind, der Hickhack mit Behörden, emotionale Krisen, die vielen Widrigkeiten und Streitereien auf der Strecke verblassten nun angesichts des erreichten Ziels. Wehmut kam bei den beiden auf. Eine Strecke von unglaublichen 13 600 Kilometern hatten sie in knapp sieben Monaten bewältigt, und die Leser ihrer Reportage lassen sie auf spannende Weise an dieser Tour teilhaben.
Die Dinge des Lebens, auch die unausweichlichen Dinge, werden bei solch einem Projekt reflektiert. Junge Menschen reifen und kommen ins Philosophieren, die Wahrnehmung verändert sich. „Ich stelle mir vor“, schreibt Hansen Hoepner, „wie ich mit Paul im Schaukelstuhl auf einer Veranda sitze, immer noch der gleiche Humor, immer noch wir zwei, aber fünfzig Jahre älter. Und mich überkommt ein Gedanke, den ich schon so oft hatte: ,Einer von uns beiden wird zuerst sterben’, sage ich. ,Ja, einer von uns wird den anderen sterben sehen…’, antwortet Paul leise.“
Gerne wüsste man, wie es den Brüdern nach der „unglaublichsten Tour unseres Lebens“, dieser Grenzerfahrung, gelang, in Berlin in das normale Alltagsleben zurückzufinden. Sollten die beiden ein weiteres und ähnlich ambitioniertes Projekt in Angriff nehmen? Über eine Fahrt von Chile nach Alaska denken sie nach, über eine Distanz von etwa 27 000 Kilometern durch gefährliche Länder und Regionen. Beinahe möchte man ihnen abraten – denn kann bzw. muss diese Tour nach Shanghai, von der sie noch ihren Enkeln erzählen, ja vorschwärmen können, wirklich getoppt werden?
Hansen und Paul Hoepner (mit Marie-Sophie Müller): Zwei nach Shanghai. 13 600 Kilometer mit dem Fahrrad von Deutschland nach China. Mit 34 farbigen Fotos, 12 Links zu zusätzlichem Filmmaterial und einer Karte. 272 Seiten. Piper Malik Verlag, München 2013. 19,99 Euro.